Im den vielschichtigen Beziehungen zwischen dem Makrokosmos des Russischen Reichs und dem Mikrokosmos der Franckeschen Stiftungen vor den Toren der Universitätsstadt Halle lassen viele bedeutende Namen aufhorchen: nicht zuletzt der von Zar Peter dem Großen, der damals gerade Russlands Fenster gen Westen aufstieß, – natürlich auch der Name des Hauptes der hallischen Pietisten, August Hermann Francke, der sich zusammen mit seinen hallischen Mitarbeitern hinsetzte, um Russisch zu lernen, – ebenso der Name von Erzbischof Feofan Prokopowitsch, Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, geistige und praktische Stütze Peter des Großen bei dessen heiß umstrittenen Reformen, – auch unvergesslich der Name von Heinrich Wilhelm Ludolf – Diplomat, Polyglott und früher Ökumeniker in östlichem und westlichem Gelände, Verfasser einer ersten Grammatik der russischen Sprache, die in Oxford erschien, – aber auch zu erinnern sei der Name von Georg Wilhelm Steller, Arzt und Naturwissenschaftler, Teilnehmer an der Großen Nordischen Expedition nach Sibirien und Alaska, – besonders bemerkenswert der Name des griechisch-orthodoxen Gelehrten und Bischofs Eugenios Bulgaris, einer der geistigen Führer zur künftigen Befreiung Griechenlands vom Türkenjoch und ,Lieblingsprälat’ der Zarin Katharina der Großen, welcher vom Heiligen Berge Athos über Halle nach Russland kam, und – last not least – auch die Name den Pleiade gelehrter Hallenser an der Sankt – Petersburger Akademie der Wissenschaften in deren Gründungszeit. So überrascht es eigentlich nicht, dass die ersten russischen Bücher in Deutschland in der auch heute noch arbeitenden “Typographie” des Franckesehen Waisenhauses in Halle gedruckt wurden. Besonders berühmt wurde in Russland die hallische Edition dem “Bücher vom Wahren Christentum” von Johann Arndt in der russischen Übersetzung von Simeon Todorski. Dieser ukrainisch-russische orthodoxe Theologe, der 1729-1735 in Halle studiert und als Übersetzer gewirkt hatte, ist nach seiner Rückkehr in die Heimat auch als der Religionslehrer des zukünftigen Zarenpaares, der Peter III. und Katharina der Großen, hervorgetreten. Durch seine Kenntnis des Luthertums in pietistisch – hallischen Variante wie auch der orthodoxen Kirche konnte er dem deutschen Zarenpaar die Nahe der Protestantismus und Orthodoxie überzeugend demonstrieren. Seit 1777 war Simeon Todorski Bischof im westrussischen Pskow.

Bekannt ist auch aus der hallischen Zeit Simeon Todorskis, dass seine Hauptsorge neben Studium und Übersetzungswerk den russischen Soldaten galt, die seinerzeit dem preußischen König vom Zaren geschenkt worden waren und die auch in der hallischen Garnison dienten. So kann man in dem bedeutenden russischen Theologen und Simeon Todorski möglicherweise auch den ersten orthodoxen Seelsorger in der Geschichte der Stadt Halle sehen.

Mehr als zweihundert Jahre später, seit 1941 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, lebten und arbeiteten in Halle an der Saale zahlreiche russische Menschen, als so genannte ,,Ostarbeiter”. Unter außerordentlich harten Bedienungen der Zwangsarbeit und der Kriegsgefangenschaft gab es unter diesen Menschen, deren Glaube unter sowjetischer Herrschaft grausam unterdrückt worden war, Sehnsucht nach orthodoxem Gottesdienst, es gab Trost und Ermutigung durch den Glauben, Mitgefühl und gegenseitige Unterstützung.

Im Archiv des Priesters der Berliner russisch–orthodoxen Gemeinde, welches die Gestapo zusammen mit missionarischer Literatur Anfang des Jahres 1943 in dessen Wohnung in der Regensburger Straße – 10a beschlagnahmte, findet sich ein Brief dreier russischer Mädchen, die ihm aus einem Lager in Halle geschrieben hatten. “Ich weiß nicht, wie sie davon erfuhren, dass meine Wohnung abgebrannt ist”, schreibt er in seinen Erinnerungen. “Wahrscheinlich hat ihnen jemand aus Berlin davon berichtet, und so beschlossen sie, mir, einem unbekannten Priester, einen Brief des Mitgefühls zu schreiben. …Die barmherzige Bereitschaft der russischen Seele!“ Hier ein Auszug aus diesem Brief der jungen russischen Zwangsarbeiterinnen aus Halle: „An den Vater Archimandrit Ioann Schachovskoj! – Der Friede Gottes sei mit Ihnen, hochachtbarer Vater Archimandrit, Ioann Schachovskoij, von den Mädchen Katja, Vera und Sascha. Wir arbeiten schon das zweite Jahr in Halle in der Krause – Fabrik, und wir leben, Gott sei Dank, nicht schlecht. Und so haben wir die Mädchen, als wir von Ihrem Unglück erfuhren, beschlossen, diesen Brief zu schreiben, in dem wir unser Mitgefühl für Sie und über ihren Verlust ausdrücken, weil wir auch viel verloren haben, und wir wollen nochmals herzlichst unser Mitgefühl aussprechen und Sie bitten, unsere gemeinsame, aber nicht große Hilfe anzunehmen. Denn wir denken, dass Ihnen unsere Lebenslage in einem fremden Land bekannt Sein wird. Wir leben in einem Gruppen – Lager, in dem sich 31 Mädchen befinden, die Arbeit ist nicht schwer, man verpflegt uns nicht schlecht und im Durchschritt bekommen wir 18 Mark pro Monat. Nur eins ist schlecht, dass nicht alle Mädchen den richtigen Weg verstehen wollen, den das ganze Volk gehen soll. Aber ungeachtet dieser Mädchen gibt es in uns eine große Wandlung. Viele Mädchen, wenn auch bei weitem nicht alle, halten sich an die Gebote Gottes. Bei der Wandlung, die mit uns geschah, halfen uns die heiligen Bücher: die Bibel, das Evangelium, der Katechismus, die wir uns dank Ihrer Bemühungen um die Verbreitung der heiligen Bücher beschaffen konnten und auch dank Viktor Adrianowitschs, der uns bei der Beschaffung einiger weiterer Lehrbücher half. Erlauben Sie uns, damit diesen kurzen Brief zu beenden. … Wir wünschen Ihnen das Allerbeste von Gott unserem Herrn. Leben Sie in guter Gesundheit und in Wohlergehen Ihr ganzes weiteres Leben. In Frieden Ihre Mädchen Katja, Vera und Sascha.” Dem Brief lag eine Geldsumme von 20 Mark bei – mehr als ein Drittel des Monatseinkommens aller drei Mädchen” (aus den Erinnerungen von Bischof Ioann [Scha’chovskoj], “Stadt im Feuer”)